Schwächen von MS-Studien

Der langjährige Verlauf der MS, bei dem, je nach Patient, ganz unterschiedliche Beschwerden im Vordergrund stehen, macht es schwer, die Wirkungen von Therapien überzeugend nachzuweisen. Es gibt bis heute kein einfaches, solides Beurteilungsinstrument, mit dem man die Beeinträchtigungen der MS über lange Zeit genau erfassen kann.

Bedeutung der Schubrate

Endpunkt vieler Studien ist eine Senkung der Schubrate, also der Anzahl von Schüben pro Jahr. Es ist jedoch umstritten, ob die Anzahl der Schübe wirklich eine Bedeutung für den weiteren Verlauf der MS hat.[5] In diesem Wiki wird vor allem die Anzahl von Patienten dargestellt, die gar keinen Schub mehr erleiden. Dadurch wird der Effekt auf das Verhindern von Schüben ein bisschen unterschätzt, denn die Patienten, die nur weniger Schübe haben, werden nicht als erfolgreich behandelt verzeichnet.

Krankheitsverlauf ohne Therapie aus den Therapiestudien

Aus den Plazebogruppen der Therapiestudien kann man abschätzen, wie der kurzfristige Verlauf ohne Immuntherapie über meist zwei Jahre sein wird. Dabei gelten diese Angaben nur für die Einschlusskriterien der Patientengruppen der Studie. Meist wurden in den Therapiestudien Patienten von 18-50 Jahren mit mindestens einem Schub im Jahr vor Therapiebeginn eingeschlossen. Wenn man die Therapiestudien von 1993 bis 2012 betrachtet, hat sich das Alter der eingeschlossenen Patienten von ca. 34-36 Jahren geringfügig zu 36-38 Jahren geändert. Auch die Krankheitsdauer lag am Anfang eher bei 4-6 Jahren, in den Studien ab 2006 eher bei 6-8 Jahren. Die Schubzahl im Jahr vor dem Beginn in einer Studie lag fast immer bei 1,5.

Geändert haben sich in dieser Zeit zusätzlich die Diagnosekriterien, ein Mal 2001 und ein weiteres Mal 2010. Diese neuen so genannten McDonald-Kriterien machen eine frühere MS-Diagnose möglich, weil sie weiter gefasst sind. Das kann zur Folge haben, dass mehr gutartige Verläufe diagnostiziert und in Studien behandelt werden.

Deutliche Unterschiede zeigen sich im Vergleich der Plazebogruppen in der Schubrate in der Studie. Waren in den ersten Studien 16-26% der Patienten in der Plazebogruppe schubfrei, so sind das seit 2006 eher 46-61%. Auch die Häufigkeit von fehlender Beeinträchtigungszunahme scheint sich zu ändern mit 73% bis 1998 und dann 80% und 90% in den Studien zu Tysabri®, Gilenya® und Cladribin. Die neuesten Studien zeigen wieder eher 73%.

Plazebogruppeneffekte korr Bild 5.1.2014

Abb.: Krankheitsverlauf der Plazebogruppen aus den Therapiestudien


Daraus ergibt sich, dass ohne Therapie aktuell über zwei Jahre ca. 50% der Patienten schubfrei bleiben und gut 70% ohne Zunahme der Beeinträchtigung leben können.

Messung der Beeinträchtigung

MS-Patienten haben oft sehr unterschiedliche Beeinträchtigungen. Die Beeinträchtigung der Patienten wird mit einer neurologischen Skala gemessen, der „Expanded-Disability-Status- Scale“ (EDSS) nach Kurtzke[4], auf Deutsch „Erweiterte Beeinträchtigungsskala“. Die Einordnung in dieser Skala erfolgt durch eine neurologische Untersuchung. Dabei stellt diese die Beeinträchtigung des Gehens sehr in den Vordergrund. Es war vom Konzept vieler Studien her darüber hinaus kaum möglich, einen Effekt auf die Zunahme der Beeinträchtigung im EDSS nachzuweisen. Dazu wäre eine längere Studiendauer oder eine Patientengruppe mit höherer Krankheitsaktivität notwendig gewesen.

Die EDSS-Skala

Die EDSS reicht von 0 = „keine Beschwerden“ in Schritten von 0,5 bis hin zu 10 = „Tod durch MS“. Natürlich kann man die vielen sehr unterschiedlichen Arten von MS-typischen Beeinträchtigungen nicht wirklich mit einer einzigen Skala darstellen. Anders ausgedrückt: Es ist sehr schwierig, einen Betroffenen mit seinen ganz persönlichen Beeinträchtigungen einzuordnen oder mit anderen Betroffenen bezüglich des Schweregrades zu vergleichen. Um es doch zu versuchen, misst die Skala auf unterschiedlichen Abschnitten unterschiedliche Beeinträchtigungen. Von „0“ bis „3,5“ wird der Wert im Rahmen einer neurologischen Untersuchung bestimmt. Von „4“ bis „7“ beruht der Wert auf der maximalen Gehstrecke. Bei den Werten über „7“ entscheidet das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit. Damit sind die Abstände zwischen den Zahlenwerten je nach Bereich der Skala sehr unterschiedlich. So ist z.B. der Sprung von 6,0 bis 6,5 viel größer als von 1 auf 1,5. Ein Problem der Skala ist, dass z.B. zwei Betroffene mit dem Wert „5“ auf der EDSS-Skala sehr unterschiedlich stark beeinträchtigt sein können, weil „5“ nur etwas über das Gangbild aussagt. Zwischen verschiedenen Untersuchern, die den gleichen Patienten untersuchen, treten zudem regelmäßig Unterschiede von 0,5-1 Skalenpunkten auf. Aus der Patientenperspektive ist dabei evtl. gar kein Unterschied zu bemerken.

Bei den MS-Studien wird generell eine Verschlechterung um einen Punkt der EDSS-Skala als Progression, also als Zunahme der Beeinträchtigung angesehen. Eine solche Progression sollte durch eine zweite Untersuchung nach 3-6 Monaten bestätigt werden, um nicht aus Versehen schubbedingte Verschlechterungen zu erfassen. Häufig ist aber selbst das nur begrenzt aussagekräftig, denn es kann sein, dass sich auch 6 Monate nach Schubbeginn Beschwerden noch bessern. Der Patient hat in einem solchen Fall also keine Progression seiner Erkrankung, sondern lediglich einen lang andauernden Schub.

Seit 1999 ist der Multiple Sclerosis Functional Composite (MSFC) als objektive, möglicherweise bessere Methode zur Messung der Beeinträchtigung bei MS eingesetzt worden.[6] Er misst drei verschiedene Dimensionen der Beeinträchtigung:

  • Das Gehen: mit der Gehzeit in Sekunden für acht Meter (Time-To-Walk-8-Meters, T8)
  • Die Feinmotorik der Hände: mit dem Nine-Hole-Peg-Test (9HPT), bei dem auf Zeit neun Stifte in ein Holzbrett gesteckt werden müssen.
  • Geistige Funktionen: mit dem Paced-Auditory-Serial-Addition-Test (PASAT), bei dem vorgesprochene Zahlen addiert werden müssen.

Das Problem des MSFC ist, dass die Bedeutung von Veränderungen der Zahlenwerte, also die klinische Relevanz, für den Patienten nicht klar ist. Eine neuere Untersuchung[7] hat gezeigt, dass eine Änderung um ca. 20% von den meisten Patienten - zumindest aufs Gehvermögen und die Handfunktion bezogen - wahrgenommen wird. Bei den geistigen Funktionen konnte dies so nicht gezeigt werden.

Nebenwirkungen

Nebenwirkungen werden oft sehr unsystematisch beschrieben. Dabei müssen verschiedene Erfassungsprobleme gelöst werden:

  1. Zum einen treten zeitnah zur Medikamentengabe Nebenwirkungen auf. Der ursächliche Zusammenhang zum Medikament ist dabei nicht immer klar. Auch unter Scheinmedikamenten treten oft gleiche Nebenwirkungen auf. Ein sicherer Zusammenhang zum Medikament ist nur gegeben, wenn die Nebenwirkung statistisch geprüft häufiger unter dem Medikament als unter Plazebo auftritt.
  2. Nebenwirkungen können sich bei einer dauerhaften Gabe über die Zeit erheblich verändern. Es liegen oft keine systematischen Studiendaten zur Auswirkung von Nebenwirkungen über längere Zeiträume als zwei Jahre vor. Hier gibt es keine Plazebogruppe mehr, so dass die Abschätzung des Zusammenhangs der Nebenwirkung mit dem Medikament aus den allgemein bekannten Häufigkeiten bestimmter Beschwerden und Erkrankungen in der Bevölkerung erfolgt. Bestenfalls liegen für die spezielle Bevölkerungsgruppe, die behandelt wird solche Daten vor (Bsp. MS, junge Frauen). Bei häufigeren Erkrankungen kann diese Zusammenhangsabschätzung schwer sein.
  3. Dann treten seltene Nebenwirkungen oft erst im Verlauf der Zulassung auf, wenn viele Patienten behandelt werden.

Die Häufigkeitsschätzung ist hier oft sehr ungenau, da die Berichterstattung sehr von der Schwere der Ereignisse, der Sicherheit des Zusammenhangs und der Motivation der behandelnden Ärzte abhängt, dies zu tun sowie von einer Firma oder der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, diese Daten schnell zugänglich zu machen. Je schwerer die Nebenwirkung und je eher diese klar auf das Medikament zurückzuführen sind, desto wahrscheinlicher ist die Erfassung.

In den letzten zwei Jahren haben sich zum Teil Initiativen aus der Pharmaindustrie aber auch vom Kompetenznetz Multiple Sklerose gebildet, um ein anhaltendes Ãœberwachungsprogramm neuer Immuntherapien bei MS zu etablieren.

Grundsätzlich gilt bei Therapiestudien, dass alle Ereignisse, die einem Patienten im Laufe einer Studie passieren, möglicherweise Nebenwirkungen sind. Dies führt dazu, dass es Unmengen an Daten gibt, die oft schwer zu bewerten sind.

Dabei muss immer betrachtet werden, welche Nebenwirkungen wirklich auf ein Medikament zurückzuführen sind und welche Nebenwirkungen auch bei Scheinmedikamenten (Placebos) auftauchen. Denn dem so genannten Plazeboeffekt steht auch ein so genannter "Nocebo"-Effekt gegenüber: auch Scheinmedikamente machen Nebenwirkungen.

In den "Beipackzetteln" von Medikamenten stehen oft alle Ereignisse, die in Studien berichtet wurden und nicht nur die statistisch bedeutsamen. Dies führt dazu, dass der Leser von einer Fülle manchmal sehr ungewöhnlicher Nebenwirkungen überrollt wird, bei denen unklar ist, ob ein Zusammenhang mit dem Medikament besteht.

Verblindung

Um einen „Placeboeffekt“ auszuschließen, wissen die Behandelnden und die Behandelten nicht, ob sie Kortison oder Placebo geben bzw. erhalten. Sie sind also dem Medikament gegenüber verblindet (wenn sowohl die Ärzte als auch die Patienten verblindet sind, spricht man auch von „Doppel-Verblindung“).

Beispielsweise bringt die Einnahme von Kortison zur Schubtherapie regelmäßige Nebenwirkungen mit sich, welche dazu führen könnten, dass ein großer Teil der Teilnehmer weiß, ob Kortison erhalten wird oder nicht.

Eine echte Verblindung scheint bei der Schubtherapie mit Kortison bzw. der Kortisontherapie also nur eingeschränkt möglich. Denkbar ist, dass es hierdurch zu einer Überschätzung positiver Therapieeffekte kommt. Dies gilt sowohl für die Betroffenen, als auch für die behandelnden Ärzte.

Häufigkeiten von Nebenwirkungen

Häufigkeiten werden von Menschen sehr unterschiedlich wahrgenommen. In der Arzneimittelsicherheit gelten folgende Regeln:

  • Sehr häufig: mehr als 10 Behandelte von 100 (>10%)
  • Häufig: 1 bis 10 Behandelte von 100 (<10%)
  • Gelegentlich: 1 bis 10 Behandelte von 1.000 (1-0,1%)
  • Selten: 1 bis 10 Behandelte von 10.000 (0,1-0,01%)
  • Sehr selten: weniger als 1 Behandelter von 10.000 (<0,01%)

Selbst wenn man Ärzte befragt, werden diese Prozentzahlen nicht richtig zugeordnet.[8] "Häufig" zum Beispiel wird einem Wert von 75% zugeschrieben statt maximal 10%.

Wirkungen auf das Kernspinbild

Verschiedene Untersuchungen mit Daten aus unterschiedlichen Therapiestudien haben den Zusammenhang der Verhinderung von Schüben mit Nachweis von Effekten auf das Kernspinbild untersucht.[9][10] Auch wenn die Ergebnisse zum Teil widersprüchlich sind, so scheint doch eine geringere Kernspinaktivität eine geringere Schubaktivität widerzuspiegeln. Unsicherer sind die Daten zum Zusammenhang Beeinträchtigungsentwicklung und Kernspin.[9][10]

Eine ganz wesentliche Erklärung für diesen strittigen Zusammenhang ist, dass bei den Kernspinmessgrößen nie berichtet wird, wo die Herde auftreten. Ein Herd im Rückenmark hat beispielsweise viel schwerere Folgen als im vorderen Bereich des Gehirns, ist aber möglicherweise viel kleiner.

Auch ist zunehmend klar, dass hinter einem Herd im T2-gewichteten Kernspin sehr unterschiedliche Prozesse stehen können: lediglich Wassereinlagerung, viele Entzündungszellen, ein Gewebeumbau bis hin zum Untergang von Nervenzellen. Dies kann nur über eine Beobachtung im Verlauf nachgewiesen werden.

Nur wenige Untersuchungen haben den Zusammenhang zwischen der Anzahl der Entzündungsherde im allerersten diagnosegebenden Kernspin und der Zunahme der Beeinträchtigung über längere Zeit untersucht.[11] Hier scheint aber ein Zusammenhang zu bestehen. Keinesfalls rechtfertigen diese Untersuchungen aus irgendeinem einzelnen Kernspin im Verlauf der MS die zukünftige Beeinträchtigung vorhersehen zu können.

Dauer der Studien

Die MS-Therapiestudien wurden bisher über ein bis maximal drei Jahre durchgeführt. Dies ist für eine Krankheit, die 30 Jahre oder länger andauert, eine relativ kurze Zeit. Ob die Beeinträchtigung unter einer Langzeittherapie zunimmt oder geringer wird, ist unklar.

Bei einer fehlgeschlagenen Studie[12] zum Sulfasalazin bestand beispielsweise nach zwei Jahren eine Wirksamkeit, welche nach drei Jahren aber nicht mehr nachzuweisen war. Hier zeigt sich ein Schlüsselproblem bei der Beurteilung fast aller MS-Therapiestudien.

Ein Wirkungsnachweis nach zwei Jahren Therapiestudie kann z.B. 15 Jahre später im Krankheitsverlauf verschwinden, d.h. die Evidenz für einzelne Therapien entspricht ungefähr einer "Nasenlänge Vorsprung eines Fünftausendmeterläufers" nach der ersten Runde. Beispielhaft sind die Ergebnisse einer Interferonstudie[13] in folgender Abbildung dargestellt:

Dauer von MS Studien

Abb.: Dauer der MS-Studie im Verhältnis zur Gesamtdauer der Erkrankung. Deutlich wird, dass die Studien nur eine sehr begrenzte Zeit des MS-Krankheitsverlaufs abdecken.

Bei Eintritt in die Studie hatten die Patienten durchschnittlich schon einen Krankheitsverlauf von sechs Jahren. Nach zwei Jahren Studienlaufzeit zeigt sich im EDSS ein kleiner Vorteil zugunsten des Medikaments.

Studienqualität

Wenn Teilnehmer aus einer laufenden Studie aus irgendwelchen Gründen die Studie abbrechen, fehlen Daten und die Ergebnisse können verzerrt sein. Beispielsweise wäre es denkbar, dass man die Daten von Patienten, die aufgrund einer deutlichen Verschlechterung ihrer Beschwerden vorzeitig aus der Studie ausgeschieden sind, in der Gesamtauswertung unberücksichtigt lässt. Dies führt dazu, dass die positive Wirkung eines Medikaments überbetont wird (siehe auch die Intention-to-treat-Analyse). Je höher die Zahl der Aussteiger, desto geringer also die Aussagekraft der Studie. Dies wurde zum Beispiel in einer systematischen Übersicht oder Metaanalyse durchgespielt.[14] Wenn man allen Patienten, die nicht über die volle Zeit untersucht werden konnten, eine Zunahme der Beeinträchtigung unterstellt, wären z.B. die positiven Effekte der Interferontherapie auf die Beeinträchtigungen nicht mehr nachweisbar.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass aufgrund der typischen, leicht erkennbaren Nebenwirkungen des Interferons die Verblindung nicht sicher gegeben ist. Dies kann zur Verfälschung der Ergebnisse führen. Durch den Glauben, das richtige Medikament oder ein Scheinmedikament zu bekommen, kann schon ein Effekt auftreten.

Verzerrung durch Nichtveröffentlichungen („Publication Bias“)

Wenn es, wie im Fall der Schubtherapie mit Kortison nur relativ wenige Studien mit geringen Teilnehmerzahlen gibt, besteht die Möglichkeit, dass den positiven Ergebnissen unveröffentlichte negative Ergebnisse gegenüberstehen. Der Grund für die Nichtveröffentlichungen liegt in der gängigen wissenschaftlichen Praxis, eher positive Ergebnisse zu veröffentlichen. Wissenschaftler sprechen in dem Fall von einer Verzerrung (engl.= Bias) durch Nichtveröffentlichung.