Schwächen der Azathioprin-Studien zur SRMS

Effekt auf das Kernspinbild

Die vorliegenden Studien lassen kaum Aussagen über im Kernspin nachweisbare Effekte der Azathioprin-Therapie zu. In einer einzigen rückblickenden Studie[72] wurde die Entwicklung der Entzündungsherde im Kernspin untersucht. Hierbei wurde eine Gruppe von 19 Patienten mit Azathioprin-Therapie mit einer Kontrollgruppe von 17 Patienten mit Kortison-Therapie verglichen. Es zeigte sich eine deutliche Abnahme der Entzündungsherde unter Azathioprin-Gabe während des durchschnittlich zweieinhalbjährigen Behandlungszeitraums.

Dauer der Studien

Die meisten Studien wurden über zwei bis drei Jahre durchgeführt. Dies ist für eine Krankheit, die über mehr als 30 Jahre verläuft, eine kurze Zeit. Ob der Effekt auf die Beeinträchtigung unter einer Langzeittherapie größer oder geringer wird, ist unklar.

Studiendesign/ Qualität

Azathioprinstudien sind älter als die Interferonstudien und methodisch weniger ausgereift. Das Hauptproblem ist die Mischung verschiedener Krankheitsverläufe und Therapieansätze in den Studien. So findet sich nur eine Untersuchung, die ausschließlich Patienten mit schubförmiger MS und mit Azathioprin als alleiniger Therapie untersucht und sich somit zum Vergleich mit den Interferonstudien eignet.

Wirkt Azathioprin genau so gut wie Interferon?

Direkte Vergleichsuntersuchungen gibt es bislang kaum. Betrachtet man die Anzahl der Patienten ohne Schübe im Studienzeitraum, so scheint Azathioprin ebenso wirksam wie Interferon zu sein. Direkte Vergleiche gibt es bislang nur in Form einer offenen Pilotstudie mit 30 Patienten[73] sowie in einer kleinen randomisierten Studie mit 94 Patienten über ein Jahr.[74] Bei den Azathioprin-Behandelten zeigte sich über ein Jahr gegenüber der den nicht behandelten Patienten eine Verringerung der Schubrate sowohl bei Behandlung mit Azathioprin als auch mit Interferon-beta-1b. Eine Metaanalyse[75] hat eine ähnliche Wirkung auf die Anzahl schubfreier Patienten zeigen können.

Studien

Eine isolierte Auswertung der Ergebnisse bei sekundär chronisch-progredienten Patienten ist aus den veröffentlichten Daten nicht möglich. Die Studien unterschieden sich in vielen Punkten, wie zum Beispiel

  • der Verlaufsform
  • den Einschlusskriterien
  • zusätzlichen Begleittherapien
  • den Endpunkten der Studien.

In 4 Studien wurden neben schubförmigen auch primär und sekundär chronisch-progrediente Patienten untersucht.[17][18][19][20] In der Studie von Mertin[21] war ein Schub in den letzten 3 Jahren Einschlusskriterium. Zur Beeinträchtigungszunahme vor Beginn der Studie werden keine Aussagen gemacht. In der britisch-niederländischen Studie hatten aber nur 20% der Patienten einen SPMS-Verlauf ohne zusätzliche Schübe. In der Studie von Ellison[19] wurden Patienten nur nach dem Kriterium Zunahme der Beeinträchtigung eingeschlossen, 19 von 28 placebobehandelte Patienten hatten im Verlauf der Studie Schübe. Somit ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Patienten einen SPMS-Verlauf hatte. In dieser Studie wurde darüber hinaus in einer Therapiegruppe zusätzlich mit Methylprednison behandelt. In der Studie von Ellison[19] wurden nur 98 Patienten behandelt. Die Untersuchung von Ghezzi[20] liegt nur als Publikation in einem Fachbuch vor. Aus diesen Gründen lassen sich die Zahlen der Patienten mit Zunahme der Beeinträchtigung aus nur einer Studie ableiten.[19]

Wirkungen

Für Azathioprin besteht wohl ein mäßiger Nutzen bezogen auf die Zunahme der Beeinträchtigung sowie die Schubrate. Da die Studien nicht gezielt unterschiedliche Verlaufsformen untersuchen, lässt sich zum Nutzen bei SPMS keine klare Aussage machen. 2007 wurden in einer Übersichtsarbeit (Metaanalyse) die Studien zur Wirksamkeit von Azathioprin zusammengefasst.[22] Im Folgenden werden die zwei Hauptstudien[19][23] kurz dargestellt. Eingesetzt wurde eine tägliche Azathioprin-Dosierung von zwei bis drei mg Azathioprin pro kg Körpergewicht über drei Jahre. Hauptendpunkt der Studie war die Senkung der Schubrate gemessen als mittlerer Unterschied im EDSS nach drei Jahren.

Wirksamkeit auf die Beeinträchtigung über drei Jahre Therapie

In der britisch-niederländischen Studie war unter Azathioprin die Zunahme der Beeinträchtigung um 0,2 Punkte im EDSS geringer (Anstieg um 0,8 Punkte in der Placebogruppe und um 0,6 Punkte in der Azathiopringruppe). In der Ellison-Studie lag die Differenz bei 0,3 Punkten (Anstieg um 0,4 Punkte in der Placebogruppe und um 0,1 Punkte in der Azathiopringruppe). Dieser Effekt war statistisch nicht signifikant.

Abb. 11

Schubrate

Die mit Azathioprin behandelten Patienten hatten 0,11 weniger Schübe als die Patienten der Placebogruppe, was nicht signifikant war.[24] In der Ellison-Studie hatten die Patienten der Behandlungsgruppe 0,24 Schübe weniger, was signifikant war. Beide Ergebnisse beziehen sich auf die Gesamtstudiendauer von drei Jahren.

Nebenwirkungen

Übelkeit und Erbrechen treten bei den mit Azathioprin behandelten Patienten viermal so häufig auf. Darüber hinaus hatten ca. 6% von ihnen allergische Hautreaktionen. Die Studiendaten haben kein erhöhtes Infektionsrisiko unter Azathioprin gezeigt. Über eine Beobachtungszeit von neun Jahren lässt sich keine Erhöhung des Krebsrisikos feststellen.

Magen-Darm-Störungen

Zu Therapiebeginn traten Übelkeit und Erbrechen auf. Im ersten Jahr der Therapie trat bei 29 von 174 mit Azathioprin behandelten Patienten Appetitverlust auf (Placebo: 10 von 180 Patienten) und bei 21 von 174 Behandelten Erbrechen (Placebo: 7 von 180).[24] Insgesamt berichteten 19 von 174 Patienten der Behandlungsgruppe von Magen-Darm-Störungen, verglichen mit 5 von 180 unter Placebo.

Veränderung von Blutwerten

Die therapeutische Anwendung von Azathioprin ist verbunden mit einer dosisabhängigen Absenkung bestimmter weißer Blutzellen (sog. Granulozyten und Lymphozyten (Glossar)). Diese Wirkung dient der Kontrolle des Therapie-Effekts. Nach Absetzen des Medikaments normalisiert sich dieser Wert wieder. Eine Verminderung der weißen Blutzellen (Leukozyten) trat bei 36 von 160 mit Azathioprin behandelten Patienten gegenüber einem Patienten von 157 unter Placebo auf.[24] Weiterhin entwickelte ein Patient eine therapiebedingte Blutarmut. Veränderte Leberwerte traten viermal häufiger als unter Placebo (15 gegenüber 4) auf. Diese Werte liegen für die Ellison-Studie[19] nicht vor.

Ãœberempfindlichkeits-Reaktionen

Allergische Hautreaktionen traten bei 11 von 174 der mit Azathioprin behandelten Patienten auf (=6%). In anderen Therapiestudien wird über das Auftreten von allgemeinem Unwohlsein, Schwindel, Erbrechen, Fieber, Muskelstarre, Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen, Hautausschlägen, Leberfunktionsstörungen, Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, Herzrhythmusstörungen und Kreislaufschwäche berichtet. Ein Zusammenhang mit der Azathioprin-Gabe wurde immer wieder bestätigt, weil bei einem erneuten Therapiebeginn nach Absetzen des Medikaments die gleichen Beschwerden wieder auftraten. Azathioprin sollte nach Auftreten derartiger Beschwerden endgültig abgesetzt werden. Unverzügliches Absetzen und unterstützende Maßnahmen haben in fast allen Fällen zur vollständigen Rückbildung der Beschwerden geführt.

Seltene Nebenwirkungen

Infektionen

Infektionen waren in beiden Studien bei Azathioprin nicht häufiger als bei Placebo. In Therapiestudien bei anderen Erkrankungen zeigten Patienten, die mit Azathioprin behandelt wurden, jedoch eine erhöhte Anfälligkeit für Pilz-, Virus- und Bakterieninfektionen.

Haarausfall

In den Studien zur Azathioprin-Therapie bei MS trat bei den behandelten Patienten kein Haarausfall auf. Ein teilweiser Haarausfall wurde bei ca. 50% der Patienten beschrieben, die eine Nierentransplantation erhalten hatten und mit Azathioprin und Kortison behandelt wurden. Bei über 80% ging der vermehrte Haarausfall trotz Fortsetzung der Therapie zurück und die Haare wuchsen wieder nach.

Verhinderung und Behandlung von Nebenwirkungen

Magen-Darmbeschwerden können durch Einnahme entsprechender Medikamente weitgehend verhindert werden. Blutuntersuchungen sollten während der ersten acht Wochen wöchentlich durchgeführt werden. Bei hohen Dosen oder schweren Nieren- oder Leberschäden sollte anfangs häufiger kontrolliert werden, später mind. alle drei Monate. Bei Infektionen, blauen Flecken, Blutungen oder anderen Zeichen einer Knochenmarkshemmung (Glossar) sollte der Patient zum Arzt gehen. Dies gilt auch bei Bauchschmerzen unklaren Ursprungs oder Durchfall. Menschen mit einem angeborenen Mangel an Thiopurinmethyltransferase reagieren sensibel auf die knochenmarkshemmende Wirkung von Azathioprin. Dieser Effekt kann sich bei gleichzeitiger Gabe von Medikamenten, die das o.g. Enzym hemmen (wie z.B. Olsalazin, Mesalazin oder Sulfasalazin, z.B. Azulfidine®) noch verstärken. Diese werden vor allem bei entzündlichen Darmerkrankungen gegeben. Bei bestehenden Nieren- oder Lebererkrankungen sollte möglichst niedrig dosiert werden, da ein verminderter Abbau des Azathioprins zu höheren Medikamentenkonzentrationen im Blut führen kann. Dies kann das Auftreten von Nebenwirkungen begünstigen. Da bei allen Patienten, bei denen das Immunsystem medikamentös gehemmt wird, das Hautkrebsrisiko erhöht ist, sollten Sonnenbäder nur mit hohem Lichtschutz genommen werden. Auf den Besuch von Solarien sollte ganz verzichtet werden.

Häufig gestellte Fragen

Hilft Azathioprin besser als Beta-Interferone bei SPMS?

Aufgrund des statistisch nicht gesicherten Ergebnisses und der unterschiedlichen Endpunkte dieser Studien lässt sich der Therapieeffekt nicht sicher mit denen anderer Therapieformen vergleichen. Dennoch entspricht der Effekt im EDSS (Therapiegruppe am Studienende 0,36 Punkte niedriger im EDSS als Placebo) dem Effekt der Beta-Interferon-Therapie.

Was passiert, wenn man kein Azathioprin nimmt?

Wenn keine Behandlung erfolgt, sollten andere Therapiealternativen überlegt werden. Ohne Behandlung folgt die Erkrankung dem natürlichen Verlauf. Dabei ist dieser Verlauf ohne Therapie wie auch mit Azathioprin individuell sehr verschieden und schwer vorherzusagen.

Besteht ein erhöhtes Krebsrisiko unter Azathioprin?

Bislang konnte eine Erhöhung des Krebsrisikos nicht sicher belegt werden. Nach zehn Jahren Therapie könnte es erhöht sein.[25][26] Der Wirkmechanismus des Azathioprins lässt diese Vermutung plausibel erscheinen.

Wie ist die Lebensqualität unter Azathioprin?

Die Nebenwirkungen und die regelmäßig notwendigen Blutabnahmen können sich nachteilig auf die Lebensqualität auswirken.

Wann darf Azathioprin nicht genommen werden?

In der Schwangerschaft und in der Stillzeit. Eine Verhütung wird bei Frauen und Männern bis sechs Monate nach Absetzen des Medikaments empfohlen. Die Datenlage zur Frage nach Fehlbildungen ist uneindeutig. Im Tierversuch wurde ein klarer Zusammenhang mit Fehlbildungen der Nachkommen gezeigt. In einer systematischen Übersicht war die Fehlbildungsrate beim Menschen nicht sicher erhöht.[27] Bei bekannter Überempfindlichkeit auf Azathioprin sollte es nicht eingenommen werden.

Was muss unter der Therapie beachtet werden?

Es sollten monatlich Blutwertkontrollen (Blutbild) durchgeführt werden. Die Lichtempfindlichkeit der Haut nimmt unter Azathioprin zu. Sonnenbaden ist nur mit gutem Lichtschutz möglich, weshalb Solarien nicht besucht werden sollten. Bei einer niedrigen Anzahl von Blutzellen oder bei Infekten kann es notwendig sein, das Medikament abzusetzen bzw. die Dosis zu verringern.

Ãœberdosierungen

Infektionen unklarer Herkunft, Wunden im Rachenraum, blaue Flecken und Blutungen sind die häufigsten Zeichen einer Überdosierung mit Azathioprin, bedingt durch eine Knochenmarkshemmung (Glossar), die neun bis 14 Tage nach Therapiebeginn am stärksten ausgeprägt ist. Diese tritt häufiger nach einer langdauernden Überdosierung als nach einer einmaligen Überdosis auf. Bei einer Überdosis werden die aufgetretenen Symptome behandelt, möglicherweise wird eine Magenspülung notwendig.

Kombination mit anderen Medikamenten

Allopurinol (Gichtmittel), Marcumar (Gerinnungsmittel) und bestimmte Narkosemittel sollen nicht zusammen mit Azathioprin gegeben werden. Impfungen mit Lebendimpfstoffen, also abgeschwächten Bakterien oder Viren, können bei der Therapie mit Azathioprin zu unvorhergesehenen Risiken führen und sollten deshalb vermieden werden.

Wie erfolgt die Medikamentengabe?

Begonnen wird meist mit einer Dosis von 150 mg Azathioprin täglich. Eingenommen wird das Medikament in zwei bis drei Dosen pro Tag, einschleichend mit 50 mg beginnend. Anfangs sollten die Blutwerte alle ein bis zwei Wochen kontrolliert werden, ab dem dritten Monat monatlich. Angestrebt werden dabei folgende Werte: weiße Blutzellen (Leukozyten, Glossar) 3.000 – 4.000/mcl, Lymphozyten 600 – 1.200/mcl. Bei Leukozyten unter 2500/mcl sollte die Dosis um die Hälfte reduziert werden, bei Werten unter 2.000/mcl sollte ein Therapiepause erfolgen bis der Wert wieder über 4.000/mcl liegt.

Wann setzt die Wirkung ein?

Eine Wirkung auf die Immunzellen ist acht bis 12 Wochen nach Therapiebeginn zu erwarten.

Was passiert, wenn man das Medikament absetzt?

Hierzu liegen derzeit keine aussagekräftigen systematischen Untersuchungen vor.

Wie lange kann man und wie lange muss man das Medikament nehmen?

Da Azathioprin weder die Erkrankung heilen noch zum Stillstand bringen kann, stellt es eine Dauertherapie dar. Bei offensichtlicher Verschlechterung der Erkrankung sowie bei deutlichen Nebenwirkungen sollte über ein Absetzen des Medikaments bzw. ein Medikationswechsel nachgedacht werden.