Mögliche Verlaufsformen

Hier sehen Sie einen Ãœberblick über typische Verlaufsformen der Multiplen Sklerose. Diese werden im Kapitel "Welche Verlaufsformen gibt es?" genauer erklärt. 


Natürlicher Verlauf der MS

Der Beginn einer MS Erkrankung liegt meist um das 30. Lebensjahr herum[1][2][3][4]

Mit 85% der Fälle ist der schubförmige Verlauf zum Erkrankungsbeginn am häufigsten, in 15% der Fälle verläuft die Erkrankung primär chronisch-progredient. Die zuerst auftretenden Beschwerden sind sehr unterschiedlich. Die London-Kohorte (siehe unten) hat aufgezeigt, dass Missempfindungen und Sehnerventzündungen eher bei jungen Betroffenen auftraten, während motorische Störungen vermehrt bei älteren Personen vorlagen.

Informationen zur Studienlage

Neben vielen kleinen Studien mit wenig eingeschlossenen Teilnehmern gibt es zum Verlauf der MS vier große Langzeitstudien:

  • In der London-Kohorte wurden 1099 Betroffene, mit einer durchschnittlichen Erkrankungsdauer von 24 Jahren, aus der Stadt London in Kanada (plus umliegende Gebiete) beobachtet.[2][5][6][7][8][9][10]
  • In der Lyon-Kohorte, in welcher die erste Datenerhebung 1957 im französischen Lyon stattfand, sind 1844 Betroffene eingeschlossen. Die letzte Erhebung erfolgte 1997, bei welcher bei den Betroffenen eine durchschnittliche Erkrankungsdauer von 11 Jahren vorlag.[3][11][12][13]
  • Zwischen 1950 und 1989 wurden in der Göteborg-Kohorte 308 an einer MS erkrankte Personen mindestens über 25 nachuntersucht.[1][14]
  • 2837 Betroffene wurden in der British-Columbia-Kohorte in Kanada durchschnittlich 20 Jahre beobachtet.[15][16][17]

In den quasi populationsbasierten Studien wird davon ausgegangen mehr als 80% der an einer MS erkrankten Personen erfasst und eingeschlossen zu haben. Sicher populationsbasiert ist lediglich die Göteborg-Kohorte.

Schubrate

Im Durchschnitt liegt die Schubrate bei circa 0,5 Schüben pro Jahr, wobei die Rate im Verlauf der Erkrankung sinkt.

In der London-Kohorte hatten in den ersten Jahren 61% der beobachteten Personen keinen bis einen Schub, 33% zwei bis vier Schübe und 5% mehr als vier Schübe. In der Lyon-Kohorte fanden sich in den ersten fünf Jahren bei 37% der Betroffenen ein Schub, bei 24% zwei Schübe und bei 39% mehr als zwei Schübe.

Übergang in die sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform

Genaue Zahlen zu Personen, welche von einem schubförmigen MS-Verlauf in einen sekundär-chronischen Verlauf übergehen sind schwer zu ermitteln, da sich insbesondere der Zeitpunkt an dem eine Progression eintritt, nur schwer bestimmen lässt. Die vorliegenden Daten basieren auf dem EDSS. Schlussfolgerung anhand der Analyse aus der London-Kohorte ist, dass bei über 90% der Betroffenen nach mehr als 26 Jahren ein sekundär chronisch-progredienter Verlauf vorliegt.[2] Laut der Lyon-Kohorte ist bei 75% der an einer MS erkrankten Personen der Verlauf nach 30 Jahren progredient.[3]

In allen Zentren lag die Zeit bis zum Beginn eines chronisch-progredienten Verlaufs im Mittel bei 20 Jahren. Es liegen keine größeren Studien aus Zentren vor, in welchen rigoros alle Betroffenen mit einer schubförmigen MS beobachtet wurden und in die auch gutartige Fälle mit eingeschlossen wurden.

Entwicklung von Beeinträchtigungen

Zum Erreichen von „Meilensteinen der Beeinträchtigung“ haben alle bereits gennannten Kohorten sich ähnelnde zeitliche Verläufe zum schubförmigen MS Verlauf aufgezeigt. In der Lyon-Kohorte lag die Zeit bis zu einer Gehstrecke von 500 bei acht Jahren, bis zu 100m bei 20 Jahren und bis zu 10m bei 30 Jahren. Nach 15 Jahren sind 50% nahezu uneingeschränkt gehfähig. Zufolge der British Columbia-Kohorte benötigte die Hälfte der Betroffenen nach 30 Jahren eine Gehhilfe.

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Gutartiger (benigner) Verlauf der MS

Bezüglich des benignen Verlaufs, untersuchte die größte Fallserie, 85% (169) der Betroffenen mit einem EDSS-Wert unter 3 - also ohne Einschränkung der Gehfähigkeit - nach 10 Jahren. Die Betroffenen stammen aus der British Columbia Kohorte. Nach 20 Jahren hatten 88 von 169 (52%) weiter einen EDSS-Wert unter 3, 27% hatten einen EDSS zwischen 3 und 6 und 21% einen EDSS-Wert über 6, also zumindest eine bedeutende Einschränkung der Gehfähigkeit.

Eine Übersichtsarbeit[18] versucht die Gruppen mit gutartiger MS aus den Prognosestudien zu beschreiben. Hier reicht die Häufigkeit benigner Verläufe von 6-64% bei einer Definition von einem EDSS-Wert unter 3 nach 10 Jahren Verlauf.

In einer irischen Studie[19] waren bei 33 Patienten mit benignem Verlauf weitere 10 Jahre später nur noch 30% mit einem EDSS-Wert unter 3.

In einer kleinen populationsbasierten Studie[20] in den USA in Olmsted County, Minnesota hatten 28 von 162 Patienten einer Gruppe von MS-Patienten einen EDSS-Wert unter 2 über mindestens 10 Jahre. Davon hatten 25 mindestens 10 Jahre später immer noch einen EDSS-Wert unter 3. Die Unterschiede lassen sich wahrscheinlich so erklären, dass in Dublin lediglich Patienten eines Universitätsklinikums untersucht wurden, also eine Gruppe, in der tendenziell Patienten mit schlechteren Verläufen dauerhaft zur Behandlung verbleiben, als bei einer Gruppe aller MS-Patienten einer Region.

Kürzlich konnte aus der sehr gut verfolgten Göteborg-Kohorte bei n=202 Patienten mit schubförmiger MS ermittelt werden, wie viele Patienten beim Lebensende (im Mittel nach 45 Jahren) ohne jede neurologische Beeinträchtigung waren. Bei diesem härtesten möglichem Kriterium für Gutartigkeit waren es 13 (5%) (Skoog 2012 Brain).

Derzeitig werden in der Wissenschaft verschiedene Definitionen für gutartige (benigne) Verläufe diskutiert. Definitionen beziehen sich auf eine lange Zeit mit geringer Beeinträchtigung im EDSS, so z.B. einem EDSS-Wert kleiner als 3, 5 nach 10, 15, 20 oder mehr Jahren. Etwa ein Drittel der MS-Erkrankungen verläuft möglicherweise gutartig.[18]

Jedoch kann diese Annahme nicht durch solide Daten bestätigt werden, da angenommen werden muss, dass gerade jene MS-Erkrankte nicht erkannt werden, die einen gutartigen Verlauf nehmen. Daraus folgt, dass diese Patienten auch in den statistischen Erhebungen unterrepräsentiert bleiben. Durch den routinemäßigen Einsatz des Kernspin in der allgemeinen neurologischen Diagnostik werden heut jedoch immer häufiger mögliche MS-Patienten erkannt, die oft beschwerdefrei sind.

MS-Sterblichkeit (Mortalität)

Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist die Lebenserwartung von MS-Betroffenen im Durchschnitt vermutlich nicht geringer. Um Aussagen zur Lebenserwartung treffen zu können, sind Verlaufsbeobachtungen notwendig, die länger als 40 Jahre andauern. In Studien zur Beeinträchtigungsentwicklung liegen in der Regel keine Daten zur Lebenserwartung vor. Eine große populationsbasierte Studie aus Dänemark, in welcher 9881 Betroffene (alle diagnostizierten Personen in Dänemark) über 40 Jahre (1956-1996) beobachtet wurden ergab, dass die Überlebenszeit für Frauen 33 und für Männer 28 Jahre betrug.[21] Gegenüber der Allgemeinbevölkerung war die Überlebenszeit um 10 Jahre reduziert. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Daten sich auf Personen beziehen, welche in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts an einer MS erkrankten. Verglichen mit der heutigen Situation gab es zu der Zeit weder eine vergleichbare unterstützende medizinische Versorgung noch waren ursächliche MS-Therapien zugelassen. Die Studie zeigt weiter auf, dass die Lebenserwartung von MS-Betroffenen seit den 50er Jahren fortwährend ansteigt. Daraus ergibt sich, dass die Lebenserwartung von MS-Betroffenen vermutlich, allenfalls leicht vermindert ist. Mit einer durchschnittlichen Zeit von 35 Jahren bis zum Tod ergibt eine Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2009 ähnliche Ergebnisse.[22]