Interferone bei SPMS

Studien

Nachdem sich eine Wirksamkeit der Interferone bei schubförmiger MS gezeigt hatte, wurden vier Studien zur sekundär chronischen MS durchgeführt. Dieses waren zwei Studien mit Betaferon®:

  • EUropean-SPMS Study Group (EUSPMS)[1][2],
  • die amerikanische SPMS-Studie[3],

eine Studie mit Rebif®:

  • Secondary-Progressive-Efficacy-Clinical-Trial of Recombinant Interferonß- 1A in MS (SPECTRIMS)[4] und

eine Studie mit Avonex®:

  • International MS Secondary Progressive Avonex® Controlled Trial (IMPACT).[5]

Insgesamt wurden 2.185 Patienten über zwei bis drei Jahre behandelt. Nur die EUSPMS-Studie konnte einen sicheren Effekt auf die Beeinträchtigung, gemessen mit dem EDSS, zeigen. Diese Studie wurde bei einer geplanten Zwischenanalyse nach zwei Jahren abgebrochen, um auch den Patienten der Kontrollgruppe eine Beta-Interferon-Therapie zu ermöglichen.

Wirkungen

Die Therapie mit Betaferon® hat für Patienten mit SPMS und aufgelagerten Schüben einen mäßigen bis geringen Nutzen. Für Rebif® und Avonex® konnte dies nicht statistisch signifikant gezeigt werden. Die gemeinsame Analyse der Studiendaten aller beteiligten Patienten zeigt einen Nutzen für 8 von 100 Behandelten.

Aus den veröffentlichten Studien lassen sich folgende Ergebnisse berechnen. Zur Veranschaulichung sind die Ergebnisse auf 100 Patienten bezogen abgebildet. Dabei wird der Verlauf der Patientengruppe mit Therapie (Therapiegruppe) neben dem Verlauf der Patientengruppe mit einem Scheinmedikament (Placebogruppe) gezeigt. In einer dritten Grafik werden dann die Ergebnisse beider Gruppen zusammengeführt, um den effektiven Gewinn durch die Therapie zu zeigen. Dieser ergibt sich aus dem Unterschied zwischen der Anzahl „stabiler“ Patienten in der Beta-Interferongruppe und der Anzahl „stabiler“ Patienten in der Placebogruppe. In diesem Falle sind es also 56 - 54 = 2 von 100 Patienten, die von der Therapie profitieren.

Wirkung auf die Zunahme der Beeinträchtigung in zwei Jahren Therapie

Eine Zunahme der Beeinträchtigung wurde bei allen drei Studien über den EDSS-Wert definiert, welcher zur Bestätigung drei Monate später gleichwertig oder höher sein musste.

2 von 100 Patienten profitieren von der Therapie, 98 von 100 Patienten profitieren nicht von der Therapie.

Weitere Wirkungen

Auch bei einer strengeren Definition der Beeinträchtigungszunahme zeigte sich in der europäischen Betaferon®-Studie ein Unterschied gegenüber der Placebogruppe.[6] Für die anderen Studien gibt es diese Daten nicht. Wirkung auf die Zunahme der Beeinträchtigung über die Gesamtlaufzeit der Studie. Bei Abschluss der europäischen Betaferon®-Studie war eine Zunahme im EDSS-Wert zum Anfangswert um 0,7 in der Placebogruppe und um 0,4 in der Beta-Interferongruppe zu verzeichnen. In der Avonex®-Studie lag diese Zunahme in beiden Gruppen bei 0,3. Aus der Rebif®-Studie sind dazu keine Daten veröffentlicht.

Wirkung auf die Schubrate

Hierzu liefern die Studien unterschiedliche Zahlen. Dies könnte daran liegen, dass sich die Teilnehmer der verschiedenen Studien in ihrer Schubhäufigkeit vor Beginn der Studie stark unterschieden:

  • In der europäischen Betaferon®-Studie lag die jährliche Schubrate in der Placebogruppe durchschnittlich bei 0,64 und in der Beta-Interferongruppe bei 0,44 (Betaferon®).
  • In der Rebif®-Studie war die jährliche Schubrate in der Placebogruppe durchschnittlich 0,7 und in der Beta-Interferongruppe 0,5.
  • In der Avonex®-Studie erreichte die jährliche Schubrate in der Placebogruppe durchschnittlich 0,3 und in der Beta-Interferongruppe 0,2.

Wirkung auf den Erhalt der Gehfähigkeit

Im Verlauf der europäischen Betaferon®-Studie kam es bei 77 von 358 mit Beta-Interferon behandelten Patienten (22%) zum Verlust der Gehfähigkeit. In der Kontrollgruppe war dieses bei 102 Patienten (29%) der Fall. Bei 7 von 100 Patienten konnte demnach die Gehfähigkeit durch die Beta-Interferontherapie erhalten werden. Für die anderen Studien gibt es solche Daten nicht.

Ergebnisse des Multiple Sclerosis Functional Composite (MSFC)

Nur die Avonex®-Studie hatte den MSFC als Endpunkt definiert. Hier fand sich ein statistisch signifikanter Vorteil für die mit Avonex® behandelten Patienten. Ob das Ergebnis für die Patienten selbst von Bedeutung und spürbar ist, ist unklar.

Wirkung auf das Kernspinbild

Alle drei Studien zeigten deutlich positive Effekte der Therapie auf drei Größen im Kernspinbild:

  1. neue und vergrößerte Herde,
  2. Kontrastmittelspeicherungen und
  3. Gesamtzahl an Herden.

Diese einheitlichen Ergebnisse werden generell als Beleg für zumindest eine mäßige bis geringe Wirkung der Beta-Interferone auch bei der SPMS angesehen.

Mögliche Wirkungen bei speziellen Patientengruppen

In der europäischen Betaferon®-Studie profitieren insbesondere Patienten mit einer hohen Schubrate oder mit Zunahme der Beeinträchtigung im Jahr vor Beginn der Studie. In der amerikanischen Betaferon®-Studie waren deutlich weniger Patienten mit zusätzlichen Schüben. Möglicherweise war dies der Grund für den fehlenden Wirksamkeitsnachweis in Amerika. Ähnliche Effekte für Patienten mit Schüben wurden auch in der Rebif®-Studie berichtet, waren aber weniger deutlich. In der Rebif®-Studie zeigte sich hingegen, dass mehr Frauen als Männer von der Therapie profitieren. In der Avonex®-Studie ließ sich keine Untergruppe isolieren, die einen Nutzen der Therapie hinsichtlich der Beeinträchtigungszunahme hatte.

Wie viele Patienten müssen behandelt werden, damit ein Behandelter einen Nutzen hat?

Es müssen 12 Patienten mit einem Beta-Interferon behandelt werden, um bei einem Patienten eine Zunahme der Beeinträchtigung während einer Therapie über zwei Jahre zu verhindern.

Nebenwirkungen

Unter Beta-Interferontherapie haben 24 von 100 Patienten zumindest eine Einstichreaktion, die auf das Beta-Interferon zurückzuführen ist. 21 von 100 Patienten haben therapiebedingt grippeähnliche Nebenwirkungen. Im Folgenden wird nur von den Nebenwirkungen aus den Studien zur SPMS berichtet. Es sollten aber auch die Berichte über die Nebenwirkungen bei der schubförmigen MS beachtet werden (siehe Nebenwirkungen der Beta-Interferontherapie bei schubförmiger MS). Leider gibt es bislang keine Studien, die die Entwicklung der Nebenwirkungen über längere Zeit darstellen. Meist wird nur das mindestens einmalige Auftreten bestimmter Nebenwirkungen angegeben. Wichtig wäre jedoch, den Wirkungen nach zwei Jahren Therapie diejenigen Nebenwirkungen gegenüberzustellen, die zu Beginn bestanden und auch nach zwei Jahren noch bestehen.

Reaktion an der Einstichstelle

Zur Veranschaulichung sind die Ergebnisse im Folgenden auf 100 Patienten bezogen dargestellt.

Beta-Interferontherapie bei sekundär-chronischer MS:

35 von 100 Patienten haben mindestens eine Einstichreaktion in zwei Jahren. Davon sind 24 direkt auf das Beta-Interferon zurückzuführen.

Weiterhin wurde in der europäischen Betaferon®-Studie und der Rebif®-Studie bei 7 von 100 Patienten von Hautnekrosen berichtet; in der Avonex®-Studie wurde keine Nekrose gemeldet.

Grippeähnliche Beschwerden

In der Behandlungsgruppe hatten 53 von 100 Patienten grippeähnliche Beschwerden. In der Kontrollgruppe waren es 32 von 100. Demnach hatten 53 - 32 = 21 von 100 Teilnehmern grippeähnliche Beschwerden, die durch die Beta-Interferon-Gabe bedingt waren.

Verstärkung der Spastik

In der europäischen Betaferon®-Studie zeigte sich bei 10% der mit Beta-Interferon behandelten Patienten eine therapiebedingte Zunahme der Spastik im Vergleich zur Kontrollgruppe. Für die Therapie mit Avonex® und Rebif® liegen entsprechende Daten nicht vor.

Verminderung der weißen Blutzellen (Leukozyten)

Nur in der Rebif®-Studie werden Veränderungen der weißen Blutzellen berichtet. 5 von 100 der mit Rebif® Behandelten und 2 von 100 Patienten der Kontrollgruppe hatten eine vorübergehende Verminderung der weißen Blutzellen (Leukopenie). In den anderen Veröffentlichungen fehlen Aussagen zu diesen Laborwerten.

Erhöhung der Leberwerte

Von Leberwertveränderungen wird nur in der Rebif®-Studie detailliert berichtet. Hier wurden bei 3 von 100 Patienten mit Placebo und bei 10 von 100 mit Rebif® Behandelten Leberwerterhöhungen berichtet.

Seltenere Nebenwirkungen

Seltene und schwere Nebenwirkungen traten in den Studien nicht auf.

Schwächen der Studien

Neben den bereits beschriebenen Schwächen von MS-Studien, die sich vor allem auf methodische Fragen beziehen, weisen die Studien zur Beta-Interferontherapie der SPMS zusätzliche Schwächen in der Wirksamkeit auf:

  • Bezogen auf die Zunahme der Beeinträchtigung im EDSS konnte nur eine von vier Studien ein positives Ergebnis zeigen. Auch dieses Ergebnis war weniger überzeugend als bei den Studien zur SRMS.
  • In der einzig erfolgreichen Studie zeigte sich darüber hinaus, dass Patienten mit SPMS durch die Zunahme der Spastik möglicherweise mehr unter Nebenwirkungen zu leiden haben als SRMS-Patienten.
  • Der Effekt bei SPMS scheint davon abhängig zu sein, ob bei den Patienten noch zusätzlich aufgelagerte Schübe auftreten (Siehe auch Verlaufsformen der MS). Insofern sollten gemäß den Empfehlungen der MSTKG auch nur die Patienten, die noch Schübe haben, mit Beta-Interferonen behandelt werden.[7]

Häufig gestellte Fragen

Im Folgenden werden allgemeine Fragen zur Beta-Interferontherapie diskutiert. Die Antworten beruhen zum Großteil auf Studienergebnissen zur schubförmigen MS, sind aber wahrscheinlich auch auf die SPMS übertragbar.

Welches Interferon hilft am besten bei der SPMS?

Die unterschiedlichen Ergebnisse der Studien zur SPMS sind vermutlich auf deren uneinheitliche Auswahlkriterien der Teilnehmer zurückzuführen. Einzig Betaferon® ist zur Therapie bei SPMS zugelassen, aber nur wenn noch Schübe auftreten. Demzufolge stehen für eine vergleichende Betrachtung der Wirkung der einzelnen Beta-Interferone nicht ausreichend Daten zur Verfügung. Lediglich die europäische Betaferon®-Studie hat eine positive Wirkung bei SPMS zeigen können. Die Daten der Rebif®-Studie und der amerikanischen Betaferon®-Studie zeigen keine Wirksamkeit des Medikaments. Auch eine vierte Studie mit 371 Patienten und Behandlung mit Rebif 22μg einmal wöchentlich hat über drei Jahre keinen Nutzen gezeigt, wobei diese Dosierung vermutlich, auch zu gering war.[8] Die Avonex®-Studie zeigt, bezogen auf den EDSS als Zielgröße, ebenfalls keinen Effekt auf die Zunahme der Beeinträchtigung. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass allein Betaferon® wirksam ist. Vielmehr scheint allgemein der Effekt der Beta-Interferone bei sekundär chronischem Verlauf geringer zu sein. Die Unterschiede in den Ergebnissen der amerikanischen und der europäischen Studie beruhen möglicherweise auf den Unterschieden zwischen den untersuchten Patientengruppen. So hatten viele der Patienten der europäischen Betaferon®-Studie bei Studienbeginn noch zusätzlich „aufgelagerte Schübe“ (Siehe auch Verlaufsformen der MS), in der amerikanischen Studie hingegen nicht. Diese Schübe, die zusätzlich zu einer schleichenden Zunahme der Beeinträchtigung auftreten, werden generell als Ausdruck entzündlicher Krankheitsaktivität bewertet. Damit hängt die Wirksamkeit von Beta-Interferon bei SPMS möglicherweise von dieser noch vorhandenen entzündlichen Aktivität ab. In der Rebif®- Studie war allerdings auch bei Betrachtung von Patienten mit aufgelagerten Schüben keine Wirkung nachzuweisen. Da mittlerweile Vergleichsdaten zu den Beta-Interferon-Therapien der schubförmigen MS vorliegen, scheint allenfalls die höher dosierte Beta-Interferon-Gabe (Rebif® oder Betaferon®) bei Patienten mit SPMS angezeigt.

Wie viele Patienten müssen behandelt werden, damit ein Behandelter einen Nutzen hat?

Es müssen 12 Patienten mit einem Beta-Interferon behandelt werden, um bei einem Patienten eine Zunahme der Beeinträchtigung während einer Therapie über zwei Jahre zu verhindern.

Was passiert, wenn man kein Beta-Interferon nimmt?

Wenn keine Behandlung mit einem Beta-Interferon erfolgt, sollte eine Therapiealternative erwogen werden. Der natürliche Verlauf der Erkrankung, das heißt der Verlauf ohne Therapie, ist individuell sehr unterschiedlich und lässt sich insofern schwer vorhersagen.

Was passiert, wenn man die Beta-Interferone absetzt?

Derzeit liegen keine systematischen Untersuchungen zu dieser Frage vor.

Welche Langzeitnebenwirkungen sind bei Beta-Interferonen zu erwarten?

Systematische Untersuchungen über Langzeitnebenwirkungen der Beta-Interferone liegen bislang nicht vor. Die längsten Behandlungszeiten liegen mittlerweile bei acht bis 10 Jahren. Bislang wurde in der medizinischen Literatur über keine schwerwiegenden Langzeitnebenwirkungen berichtet.

Wie lange kann man und wie lange muss man Beta-Interferone nehmen?

Da Beta-Interferone weder die Erkrankung heilen noch zum Stillstand bringen, stellen sie eine Dauertherapie dar. Bei offensichtlicher Zunahme der Beeinträchtigung sowie bei deutlichen Nebenwirkungen muss ein Absetzen des Beta-Interferons oder ein Medikationswechsel überlegt werden.

Beeinflusst die Beta-Interferon-Therapie die Lebensqualität?

In der Avonex®-Studie wurden Daten zur Lebensqualität anhand der MS-Quality-of- Life Skala erhoben. Hier zeigten sich positive Effekte der Avonex®-Therapie bei 8 von 11 Parametern des verwendeten Fragebogens.

Machen Beta-Interferone depressiv?

Bei den Studien zur SPMS war keine erhöhte Rate von Depressionen bei mit Beta-Interferon behandelten Patienten zu verzeichnen (Siehe Häufig gestellte Fragen zur Beta-Interferontherapie bei schubförmiger MS).

Welche Bedeutung haben die so genannten neutralisierenden Antikörper?

Beta-Interferone rufen im Körper eine Abwehrantwort in Form von Antikörpern hervor, da sie nicht identisch mit den körpereigenen Wirkstoffen sind. Diese fanden sich bei 28% der mit Betaferon® behandelten Patienten, bei 15% der mit Rebif® behandelten Patienten und bei 3% der mit Avonex® behandelten Patienten. Nur in der europäischen Betaferon®-Studie wird von einer Beeinflussung der Therapie durch die neutralisierenden Antikörper berichtet: Der Therapieeffekt in Bezug auf die Schubrate war vermindert (Siehe Häufig gestellte Fragen zur Beta-Interferontherapie bei schubförmiger MS).

Wann dürfen Beta-Interferone nicht verabreicht werden?

Beta-Interferone sollen nach Angaben der Hersteller nicht eingenommen werden bei nachgewiesener allergischer Reaktion gegen einen Bestandteil der Medikamente, bei schwerer Depression und in der Schwangerschaft oder Stillzeit. Vorsicht ist angezeigt bei bestehender Epilepsie, da es durch die grippeähnlichen Symptome möglicherweise zu Fieber kommt, das dann einen Krampfanfall auslösen kann. Ferner stellen die Grippebeschwerden eine Herz-Kreislaufbelastung dar, die bei herzkranken Patienten höchste Aufmerksamkeit erfordert. Bei Kindern und Jugendlichen sind Beta-Interferone nicht zugelassen, da hierzu keine systematischen Untersuchungen vorliegen. (Eine Korrektur der Daten ist erforderlich.)

Wie können die Nebenwirkungen behandelt werden?

(Siehe Häufig gestellte Fragen zur Beta-Interferontherapie bei schubförmiger MS).

Welche Wechselwirkungen gibt es mit anderen Medikamenten?

(Siehe Häufig gestellte Fragen zur Beta-Interferontherapie bei schubförmiger MS).

Wie erfolgt die Durchführung der Beta-Interferon-Therapie?

(Siehe Häufig gestellte Fragen zur Beta-Interferontherapie bei schubförmiger MS).