Schubtherapie
Akut auftretende neurologische Symptome der Multiplen Sklerose, die Schübe, sollen mit Kortison in ihrer Dauer verkürzt und in ihrer Stärke abgemildert werden.
- In der Behandlung von Schüben haben 25 von 100 Patienten einen Nutzen bezogen auf eine frühere Rückbildung von Beeinträchtigungen.
- Schübe können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein.
- Es fällt sowohl Ärzten als auch Betroffenen teilweise schwer, Schübe von so genannten Scheinschüben zu unterscheiden.
- Es gibt keine Faktoren, die sicher Schübe auslösen.
- Die Anzahl von Schüben hat wahrscheinlich geringen Einfluss auf den langfristigen Verlauf der MS.
Die Schubtherapie mit Kortison wird seit Jahrzehnten in der Krankenversorgung eingesetzt, dennoch liegen nur wenige aussagekräftige Studien zur ihrer Wirksamkeit vor. Eine Übersichtsarbeit[1] fasst 6 Studien zur Kortisontherapie bei akuten Schüben der MS zusammen. Die Analyse deutet darauf hin, dass es durch die Gabe von Kortison beim akuten Schub bei einem von vier Behandelten zu einer schnelleren Rückbildung der Beschwerden kommt. Andere Effekte, wie zum Beispiel ein Einfluss auf die langfristigen Einschränkungen, konnten nicht gezeigt werden. Die in der Übersichtsarbeit zusammengefassten Studien geben keinen Hinweis darauf, wie das Kortison optimalerweise gegeben werden sollte. Dies gilt sowohl für die Art (intravenöse oder orale Applikation) und die Dauer der Gabe, als auch für den Wirkstoff und die Dosierung.
Nebenwirkungen wie Stimmungsschwankungen oder Magen-Darm-Beschwerden treten bei mehr als der Hälfte der Behandelten auf, können also nach der gängigen Praxis als sehr häufig bezeichnet werden. Bei ca. einem von 100 Behandelten kommt es zu einer schweren Nebenwirkung, beispielsweise einer Thrombose. Die derzeitig verfügbaren aussagekräftigen Studien zur Schubtherapie mit Kortison zeigen keinen Einfluss der Therapie auf den weiteren und längerfristigen Verlauf der MS.
Dieser Abschnitt soll allgemein verständlich die wissenschaftlichen Belege für die Wirkungen und Nebenwirkungen von Kortison in der Therapie der MS-Schübe darstellen. Damit kann es eine Hilfe bei Entscheidungen im Umgang mit akuten Schüben der MS sein. Neben den Belegen aus Studien, spielen sowohl eigene Wertvorstellungen als auch Therapieerfahrungen eine große Rolle für eine Therapieentscheidung.
Im Gegensatz zu anderen Formatierungen im Wiki, wird in diesem Kapitel die Qualität der jeweiligen Studie durch eine Anzahl der Sterne markiert (ein Stern ✶ = geringe Qualität bis drei Sterne ✶✶✶ = hohe Qualität). Die Vergabe der Sterne erfolgte nur für Studien, welche die Wirkung einer Therapie untersuchten. Die Beurteilung der Studiengüte bezieht sich auf den Aufbau der Studie (z.B. Gruppenzuteilung und/ oder Verblindung) (siehe Abschnitt Was nützen mir klinische Studien?, bzw. (siehe auch Bewertung der Qualität der im Wiki ausgewiesenen Studien). Die Vergabe von Sterne steht nicht für die Wirksamkeit der Kortisontherapie, sondern die Qualität der Studien.
Der Einfachheit halber wird im Folgenden der Begriff „Kortison“ für alle Kortisonpräparate benutzt.
Hintergrund - Was ist Kortison?
Kortison ist der üblicherweise benutzte Begriff für eine Gruppe von körpereigenen Hormonen. Dieser Begriff wird auch für die Gruppe der künstlich hergestellten (synthetischen) Kortisonpräparate benutzt, die zur Therapie verschiedener Krankheiten eingesetzt werden. Die wichtigsten Wirkstoffe sind Prednison (z.B. Decortin®), Prednisolon (z.B. Decortin H®), Methylprednisolon (z.B. Urbason ®), Dexamethason (z.B. Fortecortin ®), sowie Cortisol (z.B. Hydrocortison ®) (siehe Tabelle weiter unten).
Normale Kortisonwirkung
Kortison ist im Organismus unabdingbar und hat zwei wesentliche Aufgaben:
- Hormon für das Leben
- Hormon für den Stress
Kortison ist dauernd erforderlich für eine normale Funktion aller Zellen. Kortison sorgt dafür, dass der Körper auf Verletzungen, Infektionen und Ähnliches angemessen reagieren kann.[1]
Vereinfachter Verlauf der Kortisonausschüttung
Die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) produziert ständig und bei besonderem Bedarf (zum Beispiel Stress) ein Hormon, das ACTH. Dieses regt die Nebennierenrinde an, Kortison und andere Hormone auszuschütten. Das ACTH und damit auch das Kortison werden in einem bestimmten Tagesrhythmus ausgeschüttet, den man als zirkadianen Rhythmus bezeichnet. Der Höhepunkt der Kortisonkonzentration im Blut ist normalerweise zwischen 8 und 10 Uhr vormittags.
Wirkung von Kortisontherapien
Die Kortisontherapie macht sich die Wirkung des Kortisons als „Hormon für den Stress“ zunutze. Es werden also stets Dosierungen verabreicht, welche die normale Tagesproduktion übersteigen. Dies ist der Grund dafür, dass es bei diesem körpereigenen Stoff überhaupt zu typischen Nebenwirkungen kommen kann. Bereits nach den ersten Therapien mit ACTH und Kortison war bekannt, dass es bei längerer Gabe regelmäßig zu diesen unerwünschten Wirkungen kommt. Dies sind vor allem eine Wasseransammlung im Körper und der Verlust von Mineralstoffen. Seit 1955 gelang die Entwicklung von Wirkstoffen wie Prednison, Prednisolon sowie Methylprednisolon, bei denen diese Nebenwirkungen in deutlich geringerem Ausmaß auftreten.
Wirkungsweise von Kortison bei akuten Schüben der MS
Der genaue Wirkmechanismus von Kortison beim akuten Schub der MS ist nicht vollständig geklärt. Kortisonpräparate sind die am stärksten entzündungshemmend und antiallergisch wirkenden Medikamente. Die Vielzahl der Wirkmechanismen gibt immer noch Rätsel auf. Im Folgenden werden vier wahrscheinlich wichtige Wirkmechanismen genannt.
Wirkmechanismen von Kortison bei MS (stark vereinfacht):
- Bildung entzündungshemmender Stoffe
- Hemmung von Botenstoffen und Blutzellen (Daraus folgt eine Veränderung der Aktivität des Immunsystems im Sinne einer Hemmung spezieller entzündlicher Immunreaktionen.)
- Allgemeine Entzündungsreaktionen werden eher unterstützt, allergische Reaktionen gehemmt.
- Verhinderung des Eindringens von Zellen und Blutbestandteilen in das Gehirn (Daraus folgt unter anderem eine Verminderung der Zerstörung von Nervenhüllen.)
- Vermehrter Untergang von Abwehrzellen, auch Apoptose genannt.
Alternative Behandlungsmöglichkeiten
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es noch?
Bei schweren Schüben, welche nicht auf die Behandlung mit Kortison ansprechen, wird die Möglichkeit eines Plasmaaustauschs (Plasmapherese) diskutiert. Über den Effekt dieser Therapie gibt es bisher nur Ergebnisse aus kleinen Studien.[10][30][31] Diese deuten darauf hin, dass nur ein Teil der Behandelten mit einer speziellen Form der Erkrankung auf diese Therapie anspricht. Eine Vorhersage, welche der Patienten zu dieser Gruppe gehören, ist bislang nicht möglich. Eine kleine Studie, welche die zusätzliche Gabe von Immunglobulinen zu Kortison untersucht, konnte diesbezüglich keinen Nutzen zeigen.[32]
Zu alternativen Methoden ("Komplementärtherapien") der Schubtherapie gibt es zur Zeit keine Studien mit aussagefähigen Ergebnissen.[33]
Häufig gestellte Fragen zur Schubtherapie
Profitieren MS- Betroffene von einer vorbeugenden Therapie?
Eine Studie mit 88 Teilnehmern[34]⇔ untersuchte die regelmäßige Verabreichung von hochdosiertem Kortison bei schubförmiger MS. Teilnehmer, die zwei- bis dreimal pro Jahr hochdosiertes Kortison einnahmen, hatten nach fünf Jahren geringere Beeinträchtigungen, als Teilnehmer, die keine vorbeugende Therapie erhalten hatten. Allerdings kam es unter dieser Therapie regelmäßig zu leichten, bei 2 von 43 Teilnehmern der Kortisongruppe auch zu schweren Nebenwirkungen. Die Studie weist einige methodische Mängel auf. Weitere Untersuchungen sind unbedingt nötig, um diese Frage beantworten zu können.
Welche Medikamente sollte ich während einer Kortisontherapie nicht einnehmen?
Insbesondere zu nennen sind hierbei:
- Bestimmte Medikamente zum Schutz der Magenschleimhaut (sog. Antazida), wie zum Beispiel Ulcogant® oder Maaloxan ®. Diese vermindern eventuell die Aufnahme von Kortison, wenn es als Tablette eingenommen wird.
- Das Antibiotikum Rifampicin (zum Beispiel Eremfat ®) reduziert die Wirkung des Kortisons um ca. 50 %.
- Bestimmte Schmerzmittel, wie Aspirin®, Voltaren® und ähnliche. Diese erhöhen in Verbindung mit Kortison die Gefahr von Magengeschwüren.
Was passiert, wenn ich bei einem Schub kein Kortison nehme?
Möglicherweise bilden sich die Beeinträchtigungen langsamer zurück. Es ist davon auszugehen, dass nach einigen Monaten das Ausmaß der Beeinträchtigungen dasselbe sein wird, wie nach einer Kortisontherapie.
Was kann ich bei einem akuten Schub noch tun?
Es wird allgemein empfohlen, während eines Schubes möglichst körperliche und psychische Anstrengung zu vermeiden. Es gibt allerdings keine aussagekräftigen wissenschaftlichen Untersuchungen hierzu.
Kann ich die Therapie vorzeitig beenden?
Das ist jederzeit möglich. Es könnte sein, dass die Beeinträchtigungen sich langsamer zurückbilden. Es gibt keine Hinweise für eine plötzliche Zunahme der Beeinträchtigungen durch Abbruch der Therapie.
Warum sollte ich während einer Infektion kein Kortison nehmen?
Kortison vermindert die körpereigenen Abwehrmechanismen gegen Viren und Bakterien. Es besteht die Gefahr, dass diese sich stark vermehren und es zu einer schweren Infektion, bis hin zur Blutvergiftung (Sepsis) kommt. Daher müssen auch eventuell unerkannte Infektionen wie zum Beispiel leichte Blasenentzündungen vor Beginn der Therapie ausgeschlossen werden. Vor Beginn der Kortisontherapie müssen Infektionen erkannt und behandelt werden.
Warum darf ich während einer Schwangerschaft kein Kortison nehmen?
Kortison kann zu Fehlgeburten oder Missbildungen führen. In Anbetracht der begrenzten Wirksamkeit bei der Schubtherapie sollte hier auf eine Kortisoneinnahme insbesondere während der Früh-Schwangerschaft verzichtet werden.
Kann ich etwas gegen mögliche Nebenwirkungen tun?
Zu diesem Thema gibt es keine spezifischen Studien, sondern nur Empfehlungen. Gegen die häufigsten Nebenwirkungen der kurzzeitigen Kortisontherapie, die Schlaflosigkeit und Magenbeschwerden, wird von einigen Autoren die Einnahme entsprechender Medikamente empfohlen.[35] Je nach individuellem Empfinden können leichte Schlaf- und Beruhigungsmittel und Medikamente zur Senkung des Magensäuregehaltes genommen werden. Basierend auf ihren eigenen Erfahrungen gibt es manche Ärzte, die eine Thromboseprophylaxe mit Heparin- oder „Thrombosespritzen“ durchführen. Ob damit Thrombosen verhindert werden, ist unklar.
Hilft die Therapie nur beim schubförmigen Verlauf der MS?
In zwei Studien wurden gewisse positive Effekte bei der Therapie der primär- chronischen[36] und der sekundär- chronischen Form der MS[26] berichtet. Diese Effekte waren, speziell bei der primär- chronischen Form allerdings sehr gering und nur von kurzer Dauer. Für eine Wirksamkeit von Kortison bei anderen Verlaufsformen der MS gibt es bislang keine Belege.
Geschichtliches
Seit wann werden Schübe der MS mit Kortison behandelt?
Bereits kurz nach der „Entdeckung“ des Kortisons in den 50er Jahren wurden erste nicht-kontrollierte Studien zur Schubtherapie mit Kortison durchgeführt. Nachdem erste randomisiert-kontrollierte Studien (siehe Studienwissen) die Möglichkeit einer schnelleren Rückbildung von Symptomen im Vergleich zu Kontrollgruppen (siehe Studienwissen) zeigten[19] [24] setzte sich in den 70er Jahren die Kortisonbehandlung bei MS in großem Umfang durch. Dabei zeigte sich bereits, dass diese Therapie keinen deutlichen Effekt auf den längerfristigen Verlauf der Erkrankung hat. Bis Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre wurde vornehmlich mit ACTH (siehe Hintergrund - Was ist Kortison?) oder niedrigdosiertem Kortison in Tablettenform (oral) therapiert.
Studien zur Therapie mit hochdosiertem Kortison als Infusion (intravenös = i.v.) gab es ab 1980. Diese zeigten ebenfalls, dass die Kortisontherapie zu einer schnelleren Rückbildung von Symptomen im Vergleich zu Kontrollgruppen führen kann.[8] ,[23] Eine Studie[3] führte 1992 zur Einführung der hochdosierten intravenösen Therapie mit Methylprednisolon (z.B. Urbason®, siehe Auswahl des Kortisons) als Standardtherapie. Hier wurden allerdings keine Patienten mit MS, sondern Patienten mit akuter Sehnerventzündung (ein mögliches erstes Anzeichen von MS) untersucht. Die Studie zeigte, dass bei Patienten mit akuter Sehnerventzündung die Gabe von hochdosiertem intravenös verabreichtem Methylprednisolon zu einem schnelleren Rückgang der Beschwerden führen kann als die Gabe von niedrigdosiertem oral verabreichtem Prednison (z.B. Decortin®, siehe Auswahl des Kortisons) oder die Gabe eines Scheinmedikaments (Placebo).
Weiterhin wurde behauptet, dass die Patienten, die mit Prednisontabletten behandelt wurden, eher zu neuen Sehnerventzündungen und sogar eher zur Entwicklung einer MS neigten.[37] Diese Behauptungen sind jedoch so nicht haltbar[26] und wurden seither von keiner weiteren Studie bestätigt. Dennoch führten sie zur weiten Verbreitung der hochdosierten intravenösen Therapie mit Methylprednisolon bei der Behandlung des akuten Schubs der MS, auch wenn die Ergebnisse nur in einer großen Studie und bei einer sehr speziellen Gruppe erzielt wurden.
In der beschriebenen Studie[3] stellten sich folgende Ergebnisse dar:
- Einen Rückgang der Beschwerden im Bereich der Sehschärfe nach 30 Tagen gab es in der Gruppe mit i.v.-Methylprednisolon für 26 %, in der Gruppe mit oral verabreichtem Prednison für 21% und in der Placebo-Guppe für 17% der Patienten.
- Einen Rückgang der Beschwerden nach sechs Monaten gab es in der mit i.v.-Methylprednisolon behandelten Gruppe für 62%, in der mit oralem Prednison behandelten Gruppe für 57% und in der Placebo-Guppe für 54% der Patienten.
Es profitierten nach 30 Tagen in der i.v.-Methylprednisolon-Gruppe 5 von 100 Patienten im Vergleich zur oralen Kortison-Therapie und 9 von 100 Patienten im Vergleich zur Placebo-Gruppe. Nach sechs Monaten profitierten 8 von 100 Patienten im Vergleich zur oralen Kortison-Therapie und 5 von 100 Patienten im Vergleich zur Placebo-Gabe.
Für den Bereich des Kontrastsehens profitierten nach 30 Tagen in der i.v.-Methylprednisolon-Gruppe 5 von 100 Patienten im Vergleich zur oralen Kortison-Therapie und 9 von 100 Patienten im Vergleich zur Placebo-Gabe. Nach sechs Monaten profitierten in der i.v.-Methylprednisolon-Gruppe 8 von 100 Patienten im Vergleich zur oralen Kortison-Therapie und 7 von 100 Patienten im Vergleich zur Placebogabe. Für den Bereich der Gesichtsfeldeinschränkung profitierten nach 30 Tagen in der i.v.-Methylprednisolon-Gruppe 13 von 100 Patienten im Vergleich zur oralen Kortison-Therapie und 30 von 100 Patienten im Vergleich zur Placebogabe. Nach sechs Monaten profitierten in der i.v.-Methylprednisolon-Gruppe 5 von 100 Patienten im Vergleich zur oralen Kortison-Therapie und 6 von 100 Patienten im Vergleich zur Placebogabe.
Einzelnachweise
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