Was erwartet mich bei MS ohne und mit Therapie?
MS verläuft über Jahrzehnte. Es wurden in der Vergangenheit leider nur wenige Studien zum Verlauf (Prognosestudien) durchgeführt, die streng populationsbasiert waren, d.h. die alle MS-Betroffenen einer geographischen Region erfassten. Außerdem haben sich Diagnostik und Therapie der MS in den letzten Jahren sehr verändert, so dass alle älteren Untersuchungsergebnisse für die Prognose der heute neudiagnostizierten Personen nur bedingt gelten. Die Lebenserwartung ist vermutlich nicht eingeschränkt. Wahrscheinlich gibt es ca. 30% gutartige Verläufe.
Uniforme Progression
Mit Eintritt einer schleichenden Zunahme der Beeinträchtigungen (progredienter Verlauf, bzw. Progression) verläuft die MS, laut allen großen Verlaufsstudien, vergleichbar (=uniform). Anscheinend ist es nicht von Bedeutung, ob zuvor eine schubförmige Phase vorlag und wie lange diese ggf. angedauert hat. Ab dem Einsetzen der progredienten Phase kommt es im Mittel zur Erreichung der Meilensteine 100m Gehstrecke und 5m Gehstrecke nach 12 bzw. 22 Jahren.[3][10] Wahrscheinlich kommt es zur keiner Beeinflussung der Progression durch aufgelagerte Schübe.
Prognosefaktoren
Trotz einer Vielzahl an durchgeführten Studien zum Verlauf der Erkrankung, werden bisher lediglich die Verlaufsform und das Erkrankungsalter als gesicherte Prognosefaktoren angesehen. Bei Personen die jung erkranken und einen schubförmigen Verlauf haben, ist die Prognose besser. Weitere Faktoren die als wichtig für den Krankheitsverlauf betrachtet werden sind die Rückbildungstendenz des Erstereignisses und die Anzahl der Herde im Kernspin. Für andere Prognosefaktoren fehlt ein wissenschaftlicher Beleg.
Verlaufsform
Bei einem primär chronischen Verlauf (PPMS) kommt es früher zu bleibenden Beeinträchtigungen im Vergleich zum schubförmigen Verlauf. Hier ist die Verlaufsform der dominante prognostische Faktor: im jüngeren und im älteren Erkrankungsalter ist der Fortschritt der Erkrankung ähnlich. In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2009 haben Wissenschaftler die Ergebnisse aus Studien zum natürlichen Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose, in welchen prognostische Faktoren evaluiert wurden, zusammengefasst. Allerdings mindern große Unterschiede zwischen den Studien deren Aussagekraft. Laut den Autoren ist bei der PPMS eine deutliche Beeinträchtigungszunahme in den ersten zwei bzw. fünf Jahren ein negativer Prognosefaktor. Für die SRMS und SPMS stellt eine deutliche Zunahme der bleibenden Beeinträchtigung über fünf Jahre einen negativen Prognosefaktor da (Degenhardt et al, 2009).
Alter
Bezogen auf die Prognose für die nächsten zehn Jahre ist diese bei Beginn der MS in jungen Lebensalter im Vergleich zum einem höheren Lebensalter besser.[12] Mit Bezug auf die Gesamtlebensspanne hat allerdings eine Person, welche mit 50 Jahren an einer MS erkrankt zehn Jahre später weniger Beeinträchtigungen verglichen mit einer Person, die im 60sten Lebensjahr bereits 35 Jahre MS hat,- also mit 25 Jahren jung erkrankt ist.
Dies wird in der folgenden Übersicht (siehe Abbildung unten) graphisch dargestellt. Es ist ersichtlich, dass in der Altersgruppe der über 50-Jährigen die Zeitspannen bis zum Erreichen der nächst höheren EDSS-Werte kürzer sind, als bei 20- bis 29-Jährigen. Somit scheint die Erkrankung in höherem Alter schneller fortzuschreiten. Patienten, die in jungen Jahren erkranken, haben jedoch aufgrund ihres länger währenden Krankheitsverlaufs im Mittel schon eine gewisse Beeinträchtigung entwickelt, wenn die älteren Patienten erst am Beginn ihrer Erkrankung stehen
Andere Prognosefaktoren
Zu allen anderen Faktoren liefern die vorliegenden Studien keine klaren Hinweise für einen Einfluss auf den Verlauf. Die Ergebnisse der verschiedenen Studien sind hierzu zu widersprüchlich. Die am häufigsten untersuchten Faktoren hierbei sind:
Übersicht über Prognosefaktoren
In der folgenden Tabelle ist aufgeführt, welche Bedeutung verschiedene Faktoren auf den Verlauf der Krankheit haben können. Insgesamt sind die Effekte dieser Faktoren mäßig: ++ = bewiesen bedeutsam, + = möglicherweise bedeutsam, +/0 = eher keine Bedeutung, 0 = keine Bedeutung. Darunter sehen Sie noch einmal die bedeutsamen Faktoren auf einen Blick.
Häufige Fragen zur MS-Prognose
Warum ist es schwierig meinen zukünftigen Krankheitsverlauf vorherzusagen?
Die MS ist eine Erkrankung mit einem sehr individuellen Verlauf. Die Abbildung "MS-Verläufe" zeigt das weite Spektrum der MS-Verläufe. Neben den errechneten Mittelwerten kann man aus der weit gestreuten, wolkenförmigen Punkteverteilung auf die Existenz der vielen, sehr unterschiedlichen Verläufe schließen. Ob die Langzeitstudie aus Lyon, die 1997 beendet wurde und auf der die erwähnte Abbildung beruht, die heute gültigen Prognosen widerspiegelt, ist offen. Jedoch gibt es im Moment keine neueren, populationsbasierten Daten.
Welche Faktoren können mir dennoch helfen, meine Prognose einzuschätzen?
Die bisher durchgeführten Studien konnten nur die Verlaufsform der MS und das Erkrankungsalter als Prognosefaktoren sichern. Als möglicherweise bedeutsam zur Prognoseabschätzung werden die Anzahl der Herde im Kernspin (siehe Abbildung im vorherigen Beitrag) nach dem Erstereignis und die Rückbildungstendenz des Erstereignisses angesehen.
Außerdem gibt es im Internet ein Rechenmodul (OLAP-Prognose-Kalkulator) auf Englisch, das nach Eingabe der Patientendaten anhand von umfassenden Studiendaten Aussagen über den individuellen Verlauf in naher Zukunft trifft: SLCMSR Homepage. (Um den OLAP-Prognose-Kalkulator öffnen zu können, ist die Bestätigung einer Sicherheitsausnahme nötig.)
Welche Aussagen können über die Lebenserwartung getroffen werden?
Auch hier stellt sich das Problem der fehlenden aktuellen, populationsbasierten Daten. Es wird angenommen, dass die Lebenserwartung im Grunde nur gering gegenüber der Normalbevölkerung verringert ist. Diese Annahme ist jedoch nicht durch vorhandene Datensätze belegbar. In Dänemark bemühte man sich von 1949 bis 1996 alle MS-Patienten in ein Register aufzunehmen und ihren Krankheitsverlauf zu dokumentieren. Aus diesen Daten wurde eine um 10 Jahre verringerte Lebenserwartung für MS-Patienten errechnet. Auch hier ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass das Register 1996 geschlossen wurde. Somit wurden hier Patienten beobachtet, die zu einer Zeit diagnostiziert wurden, als der Medizin noch nicht die modernen diagnostischen Tests zur Verfügung standen und somit wird angenommen, dass die gutartigen Verläufe in dieser Datenerhebung unterrepräsentiert sind. Das Kernspin wurde erst Mitte der 80-er Jahre in die Diagnostik eingeführt. Des Weiteren sind die ersten MS-Medikamente 1995 zugelassen worden.
Kann die MS einen tödlichen Verlauf nehmen?
Insgesamt wird angenommen, dass lediglich ein sehr kleiner Anteil an Betroffenen direkt an MS, z.B. durch einen Entzündungsherd im Atmungszentrum, verstirbt. Todesursachen bei schweren MS-Verläufen sind meist Komplikationen, die sich z.B. aus der Bettlägerigkeit und schweren Blasenfunktionsstörungen ergeben (beispielsweise schwere Blasen- und Lungenentzündung oder Lungenembolie).
Kann eine Immuntherapie grundsätzlich den Verlauf der MS ändern?
Auch wenn es einige Hinweise dafür gibt, so ist der langfristige Nutzen der Immuntherapien bei MS nicht gesichert. Wie die unteren Abbildungen zeigen, kann es sein, dass der Therapieeffekt nach Jahren der Beobachtung nicht mehr nachweisbar ist. Die längsten Therapeiverlaufsdaten finden sich unter Betaferon. Hier [29] finden sich von 98% der 372 Patienten, die an der Studie teilnahmen Daten zur Sterblichkeit nach 21 Jahren. In der dierekt behandelten Gruppe waren nach 21 Jahren noch 85% am Leben, in der Placebogruppe, die in dieser Studie 5 Jahre nicht behandelt wurde, waren es 69%, was einer absoluten Reduktion von 16% entspricht. Was die Patienten in den 15 Jahren nach der Studie als Therapie erhielten, sowie die Todesursachen, wird nicht berichtet. Insofern ist ein ursächlicher Zusammenhang zur Therapie nur schwer zu behaupten. Nach 16 Jahren Verlaufsuntersuchung liegen Beeinträchtigungsdaten vor. Hier führte die Interferontherapie in der Studie nicht zu weniger Patienten mit einer Beeinträchtungszunahme bis Jahr 16 [30].
Betaferon wurde auch in der Frühtherapie gegenüber einer um 2 Jahre verzögerten Therapie untersucht. Zeigte sich nach 3 Jahren ein Effekt mit 8 von 100 weniger Patienten mit einer Zunahme der Beeinträchtigung, so war dieser nach 5 Jahren (4 von 100 ohne Progression) und auch nach 8 Jahren (2 von 100 ohne Progression) nicht mehr nachweisbar [31].
Aus einem kanadischen Versorgungsregister wurde 2012 eine Studie veröffentlicht [32], in der je 800 Patienten unter Interferontherapie und ohne Interferontherapie über einen durchschnittlichen Verlauf von 4-5 Jahren beobachtet und mit einer historischen Kontrollgruppe verglichen wurden. Interessanterweise zeigten die Patienten mit der Interferongabe einen schlechteren Verlauf als die Patienten der Kontrollgruppe. Dies liegt vermutlich an der nicht zufälligen Zuordnung der Patienten in die jeweiligen Gruppen, denn die Ärzte haben vorzugsweise solche Patienten mit einem Interfreon behandelt, die einen aktiveren Verlauf hatten, daher konnte das Interfreon den Verlauf nicht ins Gute wenden. Dagegen steht eine Versorgungsstudie aus Italien [33]. Hier zeigten von 1504 Patienten 28% von 400 ohne Therapie gegenüber 20% von 1100 unter Interferon eine auf 500m oder weniger reduzierte Gehstrecke im Verlauf. Auch diese Daten sind wie schon die kanadische Studie nur mit Vorsicht zu bewerten.
Derlei Versorgungsdaten haben viele Schwächen, doch sie unterstreichen, dass der Langzeitnutzen offen ist.
Schwächen von Prognosestudien bei MS
Durch das Erfassen vor allem von schweren Krankheitsverläufen in MS-Studienzentren entsteht eine Auswahlverzerrung. Damit erscheint die MS ungünstiger im Verlauf, als sie wirklich ist. Hier besteht unter verschiedenen Wissenschaftlern Streit darüber, ob es einen gutartigen Verlauf der Erkrankung gibt oder nicht. Große, streng populationsbasierte Untersuchungen gibt es kaum. Darüber hinaus ist es eine offene Frage, was gutartig zu nennen ist: z.B. eine Gehstrecke von mindestens 500 Metern nach 20 Jahren, nach 30 Jahren oder gar keine Begrenzung der Gehstrecke. Ob die großen Prognosestudien, deren Datenbanken Mitte der 90-er Jahre geschlossen wurden, die heute gültigen Prognosen widerspiegeln, ist darüber hinaus offen. Zum einen hat sich die medizinische Versorgung allgemein verbessert, zum anderen bestehen seit 1995 die ersten Zulassungen für MS-Medikamente. Schließlich wurden 2001 neue Diagnosekriterien eingeführt, die eine frühere Diagnosestellung erlauben. Damit verändert sich die Prognose der MS vermutlich hin zu mehr gutartigen Verläufen.
Kernspin bei Erstmanifestation und Prognose
Der Befund des Kernspins zum Zeitpunkt der Erstmanifestation hat möglicherweise prognostische Bedeutung. Hierzu liegt aber nur eine Verlaufsstudie mit Daten von 107 Patienten über 20 Jahre vor.[24]
Aus der Verlaufsstudie[25] mit 107 Patienten über 20 Jahre gehen folgende Daten hervor:
Einschränkend muss erwähnt werden, dass von den ursprünglich eingeschlossenen 109 Patienten nur 77 über 20 Jahre weiterverfolgt werden konnten, was aus den anderen wurde, wird nicht aufgeschlüsselt. Damit wird deutlich, dass die Anzahl von Herden im Kernspin eine Bedeutung für die Entwicklung eines zweiten Schubs und damit einer sicheren MS haben könnte.
Die Studien zur Erstmanifestation haben die Erkenntnisse über die Aussagekraft von Kernspinveränderungen für die weitere Krankheitsaktivität relativiert. Hier zeigte sich nämlich, dass die Anzahl von Entzündungsherden keinen klaren Hinweis auf die weitere Krankheitsaktivität gibt. In der Avonex®- und Rebif®-Studie ergab sich dazu:
Einzelnachweise